Heute hat der Mann mal das Wort – auf meinen Wunsch! Vielleicht hast Du schon mitbekommen, dass er hier fleißig die Berge rauf und runter radelt, mal mit dem Rennrad, mal mit dem Mountainbike. Ich kann seine Erlebnisse zwar auch wiedergeben, aber das ist nicht das Gelbe vom Ei. Deswegen habe ich gebettelt, gefleht und gejammert – und ihn endlich weichgekocht. Und jetzt hat er das Wort:
Pic de L’Ours
Ist ein Berg immer ein Berg?
Die Frage nach meinem Lieblingsberg ist schnell beantwortet: Pic de L’Ours!
Er ist kein Berg der Superlative, kein Riese in den Alpen oder ein Monument der Radsportgeschichte. Kein Berg, den jeder Rennradkollege kennt und anerkennend nickt.
Der Pic de L’Ours ist im Vergleich zu den Riesen, die Frankreich sonst zu bieten hat, mit seinen 492 Metern eher ein Zwerg. Dafür hat der Anstieg an jeder Ecke grandiose Aussichten, die so abwechslungsreich sind, dass sie im Vergleich zu all den Riesen nie eintönig werden. Der Zwerg steckt da so manchen der Großen locker in die Tasche. Egal ob in der Sonne, im Regen oder im Schnee. Wobei letzterer aber ein sehr seltener Gast ist – dafür dann umso schöner.
Befahrbar ist der Pic de L’Ours das ganze Jahr über – Côte d’Azur eben.
Der Aufstieg
Während der Blick über die Weite des Mittelmeeres gleitet, das sich mit jedem gewonnenen Höhenmeter noch majestätischer vor einem ausbreitet oder man die steinalten und wundervoll verwachsenen Korkeichen am Wegesrand bewundert, vergeht der Aufstieg wie im Flug.
Den Duft von Lavendel, Rosmarin und Thymian in der Nase, kurbelt es sich auch die kurzen, etwas steileren Rampen entspannt nach oben. Aromatherapie spendiert der Pic de L’Ours jedem, der ihn bezwingt, gratis dazu. Denn in den Straßen gibt es keinen Durchgangsverkehr. Einzig vereinzelte Wanderer sind mit dem Auto unterwegs, um die vielen Wanderparkplätze anzusteuern. Manche Abschnitte sind komplett für den Verkehr gesperrt und die Luft ist dadurch sauber und frisch. Provenzalische Kräuter und Vogelgezwitscher statt Abgasen und Verkehrslärm.
Die Stichstraße zur Kuppe ist eine Sackgasse im Nationalpark des Massif de l’Esterel. Die einzige asphaltierte Straße auf den Pic de L’Ours ist aber leider in einem stellenweise schlechten Zustand. Also den Rennmodus ausschalten und mal zum Genussradler werden.
Die asphaltierte Auffahrt von Norden über die Avenue de Fréjus (D6007) ist nicht mehr fahrbar, da die Straße abgerutscht und jetzt komplett gesperrt ist. Es verbleiben noch zwei weitere Möglichkeiten von Süden. Einmal aus Agay kommend von der Avenue des Golfs (D100) geht es in den Nationalpark oder am Cap Roux von der Route du Trayas (D559) aus.
Vom Cap Roux aus
Die Variante über das Cap Roux ist mein Favorit: an der Schranke vorbei in den Nationalpark abbiegen und die autofreie Fahrt genießen… Sobald man in die erste steile Rampe auf den Rocher de Saint-Barthélemy einbiegt, geht das Panoramaspektakel los. Nicht, dass die Anfahrt über die D559, sowohl von Agay als auch Mandelieu kommend, nicht schon ein absolutes Highlight an sich darstellt. Aber zusätzlich verschwindet im Nationalpark mit jedem gewonnenen Höhenmeter unter einem der Alltagslärm und der Verkehr. Es bleibt nur die ureigene Geräuschkulisse des Rennradfahrens und die frische Luft.
Wellig geht es nach der ersten Rampe weiter. Mal mit Blick auf das azurblaue Meer, mal mit Weitblick ins l’Esterel. Man huscht bei der Abfahrt an der Kreuzung vorbei, an der sich die Straßen aus Agay und die vom Cap Roux zu einer vereinen.
Kurz darauf klettert man am Parkplatz des Wanderweges zur Grotte de la Saint Baume vorbei und rollt dann auch schon über den Col de l’Évêque, welcher der Startpunkt für den Schlussanstieg hinauf zum Pic de L’Ours ist. Von hier aus sind es noch 6 km und 350 Hm bis zum Gipfel (Berg der Kategorie 3 mit 6 % Steigung im Schnitt).
Oben angekommen
Oben angekommen breitet sich vor einem die Bucht von Cannes mit den ihr vorgelagerten Inseln aus. Oft reicht der Blick bis zu den Ausläufern der schneebedeckten Alpen und den hohen Gipfeln des Hinterlandes von Cannes und Nizza. An klaren Tagen sieht man im Westen bis Saint Tropez.
Oder man hat den Kopf buchstäblich in den Wolken, denn gerade im Frühjahr fangen sie sich gern an den ersten Gipfeln des l’Esterels und die Fahrt endet mitten in ihnen.
Diese Tage mit leichter Bewölkung sind die schönsten! Die Auffahrt beginnt im Sonnenschein, dann mit den gewonnen Höhenmetern ziehen die Wolken auf gleicher Höhe an einem vorbei und auf den letzten Metern taucht man ein in diese Stille, in diese in Watte gepackte Welt. Alles glitzert von Feuchtigkeit bedeckt, sobald ein kleines Loch in den Wolken entsteht und die Sonne wieder bis auf den Boden vordringt.
Die magischsten Momente des Radfahrens.
Und wir sind an der Cote d’Azur: kalt ist es meistens auch in den Wolken nicht, ganz im Gegenteil. Manches Mal ist es über den Wolken sogar wärmer als unter ihnen.
Zu jeder Tageszeit ein Erlebnis
Oder doch lieber im Sonnenauf- oder untergang? Auch ein absolutes Highlight, aber nur im Frühjahr, Herbst und Winter erfahrbar, denn der Nationalpark ist von 21:00-6:00 Uhr gesperrt und das Befahren ist verboten.
Weiter geht es
Nachdem man sich am Gipfelpanorama satt gesehen hat, heißt es: Windjacke an und wieder zurück. Die Abfahrt nutzt teilweise eine andere Straße als die Auffahrt, da der mittlere Abschnitt eine Einbahnstraße ist.
Zurück bietet sich ein Abstecher über Agay an. Also die 12 km Sackgassenstraße wieder zurückrollen und dieses Mal rechts ab in die Abfahrt in Richtung Agay zum Lac de Grenouillet.
Von dort gibt es einen kurzen und einen langen Weg nach Agay. Da der Weg das Ziel ist, wird natürlich der lange Weg unser Weg. Also wieder rechts hoch auf den Col du Mistral. Die ersten Meter etwas steiler, danach sehr flach kurbelt es sich wunderbar entspannt an einem Bachlauf entlang. Nach der Kuppe geht es wellig weiter, vorbei an Schafherden und einem kleinen Wasserfall mit zum Baden einladenden Wasserbecken, immer der einen asphaltierten Straße folgend.
Nach dem Verlassen des Nationalparks geht es am Campingplatz vorbei bergab und man trifft auf die Avenue des Golfs (D100). Links bergab führt sie einen direkt an den Strand von Agay und zu einer allseits beliebten Bäckerei, die rechts hinter dem Kreisel zum Auftanken einlädt. Hat man etwas mehr Zeit und Hunger, ist das „Bahia“ zur Linken immer eine gute Wahl.
So viele Wege zur Auwahl
Gestärkt und am wunderschönen Strand stehend, stellt man sich der Qual der Wahl: entweder die traumhafte Küstenstraße zurück zum Cap Roux nehmen oder einfach umdrehen und durch das l’Esterel zurückfahren. Vielleicht nochmal einen kleinen Abstecher über den Pic de L’Ours? Denn inzwischen ist er mit Sicherheit schon wieder ein ganz anderer Berg.
Steht die Sonne tief im Westen, kommen langsam Wildschweine, Rotwild, Füchse, Hasen und Dachse zum Vorschein. (Also Vorsicht in den Abfahrten!)
Oder war die erste Auffahrt noch früh am Tag? Dann entfalten sich jetzt erst die vollen Aromen der Kräuter am Wegesrand unter der südlichen Sonne…
Aus den Wolken gekommen? Dann ist bei der zweiten Runde der Gipfel bestimmt wolkenfrei und das Panorama wird sichtbar. So viele Gesichter, so viele Eindrücke. Der Pic de L’Ours ist viel mehr als nur ein Berg… Er ist ein ganzes Gebirge.
Zeit, Muße und gute Beine? Dann empfehle ich den Rückweg durchs Hinterland. Der D100 bis Fréjus folgen, dann die D37 bis zur DN7. Dieser folgen und entweder auf den Mont Vinaigre oder an ihm vorbei direkt weiter nach Mandelieu und die Küstenstraße zurück zum Cap Roux.
Routen:
1: Cap Roux – Pic de L`Ours und zurück (33Km / 900Hm)
2: Cap Roux – Pic de L`Ours – Agay – Cap Roux (50Km / 1000Hm)
3: Cap Roux – Pic de L`Ours – Agay – Fréjus – Mont Vinaigre – Cap Roux (90Km / 1700Hm)
Fazit
Also da bekomme sogar ich alte Couch-Kartoffel Lust, mir einen Drahtesel zu besorgen und den Berg hochzufahren. Wobei – halt! Ich würde doch lieber ein motorisiertes Gefährt nehmen. Aber vielleicht ein stilvolles, eventuell einen hübschen Oldtimer oder so. Ja, das wäre was! Und der Hund neben mir mit wehenden Ohren und dickem Grinsen… (Der findet Radfahren nämlich völlig blöd und verweigert total das Nebenherrennen… Ich bin also quasi gezwungen, das Auto zu nehmen. Alles nur für den Hund, was soll ich machen?!)
Meinen herzlichen Dank an den Mann und Freund Ingo für die gefahrenen Kilometer, die mitgebrachten Eindrücke und die geschossenen Bilder! Keep on rollin`!